Kaspar Hauser oder
Der Traum vom brennenden Stein
Jugendstück von Reiner Karl Müller
Uraufführung: 17. Februar 2012, WLB Studiobühne am Zollberg, Esslingen
Presse:
Aufstieg und Fall
Tragische Figur oder Scharlatan? Noch immer gilt die nebulöse Biografie des Kaspar Hauser, der 1828 auf dem Nürnberger Unschlittplatz verstört und unfähig sich mitzuteilen, auftauchte, als ein gern erzählter und interpretierter Stoff, an dem sich Theater- und Romanautoren, Filmproduzenten und Songschreiber abarbeiten. Der Autor Reiner Müller hat sich dieser Geschichte ebenfalls angenommen und daraus ein Theaterstück für Zuschauer ab 12 Jahren entwickelt, das jetzt an der ausverkauften Studiobühne Zollberg unter der Leitung von Regisseurin Olga Wildgruber uraufgeführt wurde.
Es ging Müller dabei nicht um eine historisch verbürgte Nachzeichnung des Lebens des vermeintlich Geschundenen: Eigenen Aussagen zufolge hatte der junge Mann sein Leben in einem Kellerverlies zugebracht, einem Gerücht zufolge sollte Hauser der Erbprinz von Baden sein, der Opfer einer Intrige geworden war.
Der Autor beleuchtet mit seiner Interpretation einen sehr zeitgemäßen Aspekt: Wie geht eine Gesellschaft mit Fremden um, wie viel Toleranz bringt sie einer Person gegenüber auf, die nicht den konventionellen Normen und Werten entspricht? Wie schnell kann aus schlichter Neugier eine Sensation werden und was macht eine übersteigerte Aufmerksamkeit mit den im Rampenlicht Stehenden?
Um dem Stoff eine zielgruppengerechte Sprache zu verleihen, lässt Müller die Geschichte von vier Jugendlichen erzählen: Die naiv-schüchterne Anna (Sabine Christiane Dotzer), die selbstbewusste Katharina (Stela M. Katic), der linkische Jakob (Martin Frolowitz) und der weltoffene Christoph (Tobias Strobel) sind Erzähler und Darsteller zugleich. Sie begegnen dem gekrümmten, unverständliche Laute ausstoßenden Wesen (eindrucksvoll: Hanif Jeremy Idris als Kaspar Hauser), das zwar seinen Namen schreiben kann, aber weder Mensch noch Tier zu sein scheint, mit Misstrauen, Ablehnung, jedoch auch mit zunehmender Neugier. Im Gegensatz zu den Erwachsenen, in deren Rollen das Quartett durch flinke Umkostümierung schlüpft, legen die Jugendlichen ihre Vorurteile ab, nähern sich Kaspar an. Durch seine unverfälschte Sicht auf die Welt und die Art, sie zu hinterfragen, beginnen auch die Altersgenossen, sich mit den eigenen Zielen, Wünschen und Sehnsüchten auseinanderzusetzen.
Die Nachricht, Kaspar Hauser sei adeliger Herkunft, weckt die Prinzessinnenfantasie der Mädchen, rückt ihn noch mehr in den Fokus der Öffentlichkeit. Aber die Nachricht bringt auch Zweifler und Neider hervor, die in dem Jungen einen Hochstapler vermuten. Aufstieg und Fall sind untrennbar miteinander verbunden, selbst der ominöse Tod wird zum Medienereignis.
Die ungewöhnliche Perspektive entmystifiziert den Stoff und baut ihm eine originelle Handlungsebene, die von den Akteuren akzent- und pointenreich gefüllt wird. Der jugendliche Ton verleiht der tiefgründigen Geschichte Leichtigkeit, die zeitgemäße Sprache transportiert die Botschaften unverschlüsselt. Die Tafellandschaft, die in immer neu zusammengeschobenen Konstellationen die Kulissen zu den Szenen (Ausstattung: Claudia Rüll Calame-Rosset) liefert, bietet Orientierung, die dem Alltag des jungen Publikums entlehnt ist. Und das temporeiche Agieren der Schauspieler, die Pausenhofclownereien, Albernheiten und hochkomischen Elemente wie Tobias Strobels Auftritt als besoffener Zeichenlehrer oder der von Sabine Christiane Dotzer als Freak-Show-Direktorin unterstreichen bei aller Ernsthaftigkeit den Unterhaltungscharakter dieser Produktion. Einen neuen Lösungsansatz zur wahren Identität Kaspar Hausers bietet das Stuck nicht, dafür aber jede Menge Anregungen zum Nachdenken.
(Ole Detlefsen, Eßlinger Zeitung, 21.02.2012)