Der abenteuerliche Simplicissimus
von Reiner Karl Müller (nach Grimmelshausen)
Uraufführung 13. Juni 2013, WLB Esslingen
Inszenierung: Tilo Esche
Presse:
Der mit den Wassergeistern tanzt
„Dass das Leben voller Wechsel und überraschender Wendungen ist, ist eine Lektion, die auch dem unsteten Simplicius Simplicissimus erteilt wird. Beständigkeit war an diesem Abend allein eine Tugend der Himmelsmächte. Die warnenden Worte des alten Ziehvaters Knan am Ende – „Siehst Du nicht, wie sich die Wolken zusammenziehen?“ – wurden, wiewohl trefflich auf die von Westen herannahende Schlechtwetterfront zu münzen, von den Naturgeistern einfach in den auffrischenden Nachtwind geschlagen. Der umbrauste zwar das in der Apokalypse des Dreißigjährigen Krieges spielende Stück nach der Pause eine Stunde lang und lieferte so dem Open-Air-Spektakel den passenden, dramatischen Soundtrack. Doch die sylphischen Wassergeister bleiben jedenfalls bis zum Ende dieses Theaterabends dort, wohin sie Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen in seinem Romanklassiker „Der abenteuerliche Simplicissimus“ verbannt hatte, nämlich unter der Erde. Lediglich harmloser Trockennebel dampfte aus den in die Bühne eingelassenen Schächten. Doch von oben gab es, allen Prognosen zum Trotz, keine Feuchtigkeit beim Freilichtsaisonauftakt der Esslinger Landesbühne (WLB) auf dem Georg-Christian-von-Kessler-Platz hinter der Stadtkirche St. Dionys. Bleiben lohnte sich unbedingt, und einige Besucher, die schon zur Pause angesichts des erwarteten Premierenabbruchs den Ort verlassen hatten, brachten sich um eine stimmungsvolle zweite Halbzeit – und am Ende um eine simple, auch an diesem Abend gültige Moral dieser noch immer lesens- und sehenswerten Geschichte: die Erkenntnis nämlich, dass die Dinge des Lebens letztlich doch unvorhersehbar sind und dass nur das Annehmen von Risiken und Unwägbarkeiten lebendig hält und vor Erstarrung schützt.
Auch der Titelheld ist ein kleiner Vermeider. Wollte lieber auf Nummer sicher gehen, den Dienst quittieren und wählte am Ende seiner Lebensreise, mit der diese Inszenierung beginnt, freiwillig den Gang in den Mummelsee. Doch Ausweichen ist hier nicht drin. Kaum stürzt sich der Vagabund ins Bühnenloch, spülen ihn die Sylphen auch schon wieder an die Erdoberfläche zurück, als wollten sie sagen: Mach’s noch mal, Simpel. Und dann durchläuft der Titelprotragonist in kurzweiligen zweieinhalb Theaterstunden wie im Film nochmals sein wildes, aufregendes und unruhiges Leben zwischen Himmel und Hölle, Wollust und Kriegsfrust, zwischen Weltflucht und Heilsgeschichte. Das voll barocke Programm eben. Er trifft Tod und Teufel, wird Augenzeuge und selbst Teil einer völlig aus den Fugen geratenen Maschinerie im Blutrausch, erlebt Plünderungen, Brandschatzungen, Vergewaltigungen – die ganze Barbarei des großen „teutschen Krieges“, der doch ein europäischer war und Deutschland, die Mitte des Kontinents, für lange Jahre zum internationalen Aufmarschgebiet und Schlachtfeld machte.
Die magistrale Bestandsaufnahme eines Bestsellers aus dem 17. Jahrhundert auf die Bühne zu bringen, ist ein einigermaßen komplexes Unterfangen. Es ist einerseits eine ferne, fremde vormoderne Welt, die uns hier begegnet, streng ständisch gegliedert. Die Geburt entscheidet im wesentlichen über die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten, der liebe Gott bestimmt die Strafen für die Sünden der Sterblichen, Leben und Überleben in dieser kriegslüsternen Zeit ist ein grausames Würfelspiel.
Auf der anderen Seite wirkt dieses pralle, ungeschminkte Panorama einer frivolen endzeitlichen Gier-ist-geil-Gesellschaft am sozialen Abgrund, in der die Großen und Reichen ihre zynischen Machtspiele veranstalten, erstaunlich heutig, auch wenn die apokalyptischen Reiter nicht mehr nur Kettenhemden und Lanzen tragen. Der Wert der Bildung, mit deren Hilfe das einst orientierungs- und ahnungslose Naturkind als Simplicius alsbald die Welt narren und sich in ihr durchzusetzen hilft, die – ironisch gebrochene – Utopie einer besseren, gerechteren Welt, die hier durch Lothar Bobbes freakigen Jupiter mit regenbunter „Pace“-Fahne ästhetisch allerdings etwas simpel gestrickt ist, Mobilitätszwänge, existenzielle Verunsicherung und Identitätskrisen und nicht zuletzt das zu Beginn der Aufführung vom Titelhelden im Dialog mit dem Sylphenchef entworfene bitterböse Tableau einer ziemlich egoistischen und korrupten Gesellschaft von den Geistlichen angefangen über Ärzte, Apotheker und Kaufleute hinunter bis zum einfachen Handwerker – all das kommt einem bei diesem sogenannten Schelmen- und Abenteuerroman aus dem Jahr 1668 erstaunlich aktuell vor. Gewiss, es gibt regietheateraffinere und rasantere Stücke als diesen „Simplicissimus“. Aber in der entschleunigten Taktung von Esches Inszenierung, die dem Atemlosen Luft und Raum gibt, der Poesie im knallharten Tagesgeschäft mit so einfachen wie eindrucksvollen Bildern und Live-Melodien dreier als Fantasy-Gestalten kostümierter Musiker (Kostüme: Jenny Schall) nachspürt, überzeugt die Produktion trotz kleinerer krankheitsbedingter Umstellungen und Improvisationen im Ensemble. Ulrike Reinhard hat für all die Masse- und Macht-Choreografien und Schlachtorgien, die in Zeitlupe gezeigt werden, eine palisadenbewehrte, mit allerlei Öffnungen und Türen versehenen Multifunktionsbühne entworfen, die sich als ebenso wandlungsfähig erweist wie der Titelheld und in einem Augenblick ein Feldlager zeigt, um im nächsten zum Operntempelchen oder Liebesnest zu mutieren.
Die Figur des Simplicius, der im Laufe seines Lebens in viele sozialen Rollen schlüpft, in die des Narren, Pagen oder Pilgers ebenso wie in die des rücksichtslosen Draufgängers und Militärs, ist hier plausibel doppelt besetzt: Jürgen Lingmann mit grauem Haar und Outfit gibt den im Hintergrund präsenten und von Zeit zu Zeit mitagierenden Ich-Erzähler, Nils Thorben Bartling spielt den jungen Simplicius, der sich äußerlich freilich immer mehr seinem alter ego angleicht und ihm am Ende zum Verwechseln ähnlich sieht. Er scheint nun eins mit sich zu sein. Jetzt kann das Leben nochmals beginnen.“
(Thomas Krazeisen, Esslinger Zeitung 15. Juni 2013)
Ein alter Held blickt zurück
„Ein Mann mit langen grauen Haaren und zotteligem Bart sitzt auf einer Freilichtbühne am Kesslerplatz in Esslingen. Er trägt eine Art Mönchsgewand und wärmt seine Hände an eine Feuer. „Ich will bei dir bleiben“, sagt ein junger Mann, der neben ihm kniet. „Das geht nicht“, erwidert der Grauhaarige. „Ich bin Einsiedler“. Der Junge lässt nicht locker. „Ich will aber.“ – „Nein, ich bin Einsiedler“, bleibt der Alte stur.
Der naive Jüngling versteht nicht, dass ein Einsiedler per Definition alleine sein muss. Der Alte schaut ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Mitleid an. Die Szene stammt aus Reiner Müllers Theaterfassung des barocken Romans „Der Abenteuerliche Simplicissimus“ von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Am Donnerstag war Premiere.
Es geht um einen tölpelhaften Junge, der in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges seine Familie verliert und im Wald Zuflucht sucht. Weil er seinen Namen nicht kennt, tauft ihn der Einsiedler auf den Namen Simplicissimus – der Einfachste.
Erzählt wird die Geschichte aus der Rückschau. Der gealterte Simplicissimus (Jürgen Lingmann) beobachtet und kommentiert sein Leben. „Nein, nicht in diese Richtung!“, ruft er dem vor marodierenden Soldaten davonlaufenden Jungen (Nils Thorben Bartling) zu, der er einmal gewesen ist.
„Schließlich wurde ich selbst zu einem Soldaten“, erläutert der alte Simplicissimus den Zuschauern eine von Musik begleitete Szene, in der sein jugendliches Ebenbild mit einer Gruppe uniformierter Maskenträger marschiert. Zum Schluss begegnen sich die beiden, Vergangenheit und Gegenwart fallen zusammen. Regisseur Tilo Esche setzt den Humor des Schelmenromans mit viel Slapstick um.“
(Christoph Meyer, Stuttgarter Nachrichten, 17. Juni 2013)